Foto: Thomas Klingberg / Neujahrsmorgen in Berlin-Wedding, Ungarnstraße, 2011
Was geschah mit dem Kaninchen?
Mit dieser Frage begrüßte Tanja Pinkert am 14. Juli 2015 in Berlin die Besucher der Ausstellung “Sprachbilder/Bildsprachen – Text trifft Fotografie”, ein Kunstprojekt der Dokumentarfotografen Hilli Zenker, Peter Zenker und Thomas Klingberg gemeinsam mit dem Berliner Künstler Petrus Akkordeon, der hierbei eine Auswahl dokumentarischer Schwarz-Weiß Fotografien textuell in Form von Gedichten interpretiert hat. Um seinen lyrischen Deutungen noch mehr Ausdruck verleihen zu können, hat Akkordeon die fotografischen Vorlagen jedoch nicht bloß “abgeschrieben”, sondern jene Orte, an denen sie entstanden sind, nachträglich selbst aufgesucht. Somit fließen auch Gedanken und Gefühle in die Gedichte ein, die in keinem direkten Zusammenhang mit dem jeweiligen Bild selbst stehen. Die Fotografien beinhalten Szenen aus der Stadt Berlin – Randgeschehenisse, Absurdes, Bewegendes, Trauriges, Lustiges. Auch Portraits. Vor allem Nachdenkliches.
Kirche statt Galerie
Nicht für eine klassische Galerie, sondern für den Hauptsaal der Petrus-Kirche im Berliner Bezirk Lichterfelde haben sich die vier Künstler als Ausstellungsort entschieden. “Zum einen erreichen wir hier ein weitaus diverseres Publikum, zum anderen verführt die Einbettung der Exponate in diese sakrale Umgebung zu einer anderen Herangehensweise und Auseinandersetzung mit den Inhalten der Fotografien und den Texten, in denen es etwa um Sehnsucht, Tod, Verlust, Angst, Neid, Armut oder Begierde geht”, sind sich alle einig. Die Petrus-Kirche ist längst nicht mehr nur ein Ort der Beziehungspflege zu Gott. Seit langer Zeit schon finden hier Jazz- und Blues-Konzerte statt, Kunstaustellungen und Lesungen.
Warum wachst Du nicht auf mein Freund?
Doch zurück zur Eingangsfrage: was geschah mit dem Kaninchen? Die Frage nach dem Schicksal des leblosen Wesens in jener Silvesternacht 2010/2011 kann der Urheber dieser dokumentarischen Fotografie selbst auch nicht beantworten, nur erahnen. Petrus Akkordeon ließ seine Gedanken dazu fließen und deutete das Werk in seiner eigenen, dichterischen Weise.
guten morgen du leben
du siehst ja aus wie ein kaninchen
so klein
wie war deine nacht
und wie war der tag
vor dieser nacht
warum wachst du nicht auf
mein freund
es ist nicht unbedingt klug
aber auch nicht ganz falsch
noch vor dem winter zu sterben
manchmal fällt es aus
alles
wir können nach hause gehen
noch einmal
Akkordeon intonierte seine Zeilen derart kraftvoll und gestenreich in das Kanzel-Mikrofon der neugotischen Petrus-Kirche, so dass sich einem die kleinen Muskeln an den Haarfollikeln über die ganze Haut hinweg zusammenzogen. Der Dichter, Illustrator und Aktionskünstler las insgesamt 12 seiner 26 Gedichte vor. Im Hintergrund wurde die dazugehörige Fotoarbeit mittels Beamer großflächig an die Wand projiziert. Zwischen den Bildwechseln herrschte in dem weiten Kirchensaal eine fast ehrfürchtige Stille. Kein Räuspern, kein Atem, kein Stuhlschieben, kein Flüstern war zu vernehmen. Zum Ende der Vortragung erhielt Petrus Akkordeon das verdiente Brot des Künstlers – einen respektvollen, nicht pathetisch überzogenen, anerkennenden und langanhaltenden Applaus. Die Ausstellung war eröffnet.
“Künstlerische Wucht”
“Es ist wunderbare Ausstellung. Wer die Eröffnung verpasst hat, der hat auch die Lesung der Texte in der Akustik des Raumes verpasst! Die Wirkung der Bilder zu den Texten und der Schrift zu den Bildern ist mehr als gelungen”, so der Fotograf Jens Schulze aus Berlin. Viel Lob gab es zudem für die Art der Präsentation der Text-Bild-Werkpaare. Petrus Akkordeon schrieb alle Texte per Hand in Kunstschrift unter die jeweilige Fotografie. Die Kunststoffplatten hingen großzügig im gesamten Saal der Kirche verteilt. Der Journalist und Lektor Heinz Pahlke: “Ich bin schon sehr beeindruckt von der geglückten Symbiose aus Text und Fotografie.” Der Verleger und Autor Hendrik Liersch, Corvinus Presse: “Wie bunt das Leben ist, vermittelt Petrus Akkordeon mit seinen Gedichten zu den Schwarz Weiß Fotografien.” Die Berlinerin Susanne Schmidt sprach von einer “künstlerischen Magie und Wucht”, die von den Exponaten ausginge.
Petrus Akkordeon beschreibt die Exponate. Foto: Peter Zenker
Ein Teil der Hängung in dem Saal der Petrus-Kirche. Foto: Peter Zenker
Ausstellungsbesucher im Dialog / Foto: Peter Zenker
Begegnungen
Susanne Schmidt zog es nach der Ausstellungseröffnung ein zweites Mal in die Petrus-Kirche, um die Kunstwerke in aller Ruhe auf sich wirken zu lassen. Dabei traf sie zwei ältere Herren, die vor dem Altar musizierten, mit Quetsche und Mandoline. Als sich irgendwann die Wege der Drei vor einem der Exponate kreuzten, welches das Thema Leben und Tod zum Inhalt hatte, erzählte einer der Männer unter Tränen die Geschichte eines jüdischen Mädchens, das durch eine List im Krieg überlebte, in dem es sich selbst totstellte. “Die Männer baten mich, ihnen eines der Gedichte vorzulesen, dann unterhielten wir uns solange, bis der Pfarrer uns freundlich aus der Kirche warf, weil eine Hochzeit anstand.”
Die Fotografin Hilli Zenker sieht in dieser Zusammenkunft die Bestätigung für die gemeinsame Idee, die Ausstellung in einer offenen Kirche stattfinden zu lassen. “Solche Begegnungen sind in einer Galerie kaum möglich.” Peter Zenker bringt es auf den Punkt: “Kunst muss da hin, wo die Menschen sind und nicht umgekehrt”.
Text: Thomas Klingberg
Beitrag veröffentlicht am 17.07.2015
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