Geräumtes Haus auf der Liebigstraße 34 "Liebig 34" in Berlin Friedrichshain

“Liebig 34” in Berlin Friedrichshain

Die “Liebig 34” war ein symbolträchtiges Hausprojekt im Berliner Stadtteil Friedrichshain, das über viele Jahre hinweg eine zentrale Rolle in der linksautonomen Szene spielte. Das Gebäude befand sich in der Liebigstraße 34, unweit der Rigaer Straße, einer Gegend, die seit den 1990er-Jahren ein Zentrum alternativer Lebensformen und politischer Bewegungen war. Ursprünglich war das Haus eines von vielen Gebäuden, die nach der Wiedervereinigung von der Stadt Berlin oder privaten Eigentümern dem Verfall überlassen worden waren. In diesem Kontext wurde es 1990 besetzt, als zahlreiche Aktivisten begannen, leerstehende Häuser zu okkupieren, um sich Wohnraum zu schaffen und zugleich politische und kulturelle Freiräume zu etablieren.

Im Fall der Liebig 34 war das Haus von Beginn an besonders: Es wurde früh zu einem queer-feministischen Wohn- und Kulturprojekt erklärt. Über die Jahre hinweg entwickelte sich die Liebig 34 zu einem Knotenpunkt radikalfeministischer und anarchistischer Ideen und Praktiken. Das Haus verstand sich nicht nur als Wohnraum, sondern auch als explizit politisches Projekt. Viele der Bewohner lebten dort bewusst als Männer, Frauen oder queere Personen in einem Umfeld, das Schutz vor patriarchaler und staatlicher Gewalt bieten sollte. Die Räumlichkeiten boten Raum für politische Treffen, Veranstaltungen, Diskussionen, Konzerte und Widerstandsaktionen – stets im Geiste der Selbstverwaltung, Solidarität und Ablehnung staatlicher Kontrolle.

Ein wichtiges Element in der Geschichte der Liebig 34 war ihr rechtlicher Status. Nach Jahren der Duldung wurde 2008 ein Mietvertrag zwischen dem Eigentümer, der Firma “Lafone Investment Ltd.” mit Sitz in London, und den Bewohnern geschlossen. Doch dieser Vertrag lief 2018 aus und wurde nicht verlängert. In der Folge begann ein langwieriger juristischer Streit über das Nutzungsrecht des Hauses, begleitet von einer zunehmend aufgeheizten politischen Debatte in Berlin, in der Gentrifizierung, Wohnungsnot und Polizeigewalt zentrale Themen waren.

Trotz vielfältiger Proteste, Demonstrationen und politischer Interventionen wurde im Oktober 2020 die Räumung des Hauses durchgesetzt. Am Morgen des 9. Oktober rückte ein Großaufgebot der Polizei an – rund 1.500 Einsatzkräfte waren beteiligt –, um das Haus zu räumen. Die Aktion war in der Öffentlichkeit stark umstritten. Während die Berliner Senatsverwaltung unter Verweis auf das Eigentumsrecht und die Gerichtsbeschlüsse die Räumung verteidigte, kritisierten zahlreiche zivilgesellschaftliche Gruppen, Aktivisten und Beobachter das Vorgehen als überzogen und politisch motiviert. Es war nicht nur eine faktische Räumung eines Gebäudes, sondern auch ein symbolischer Akt: das Ende eines jahrzehntelangen Experiments alternativen Lebens und politischer Selbstorganisation.

Nach der Räumung wurde das Gebäude zunächst gesichert, später entkernt. Der Eigentümer kündigte an, dort neue Wohnungen entstehen zu lassen. Gleichzeitig wurde deutlich, dass das Projekt Liebig 34 weit über seine physischen Mauern hinaus wirkte. Viele Unterstützer betrachteten die Räumung als Ausdruck der repressiven Stadtpolitik Berlins, die zunehmend Investoreninteressen über alternative Lebensformen stellte. In linken Kreisen wurde die Liebig 34 zu einem Mythos, einem Sinnbild für den Widerstand gegen Verdrängung, Kapitalismus und patriarchale Strukturen.

Bis heute lebt das Projekt in zahlreichen Erinnerungsorten, Dokumentationen und politischen Aktionen weiter. Die Liebig 34 bleibt ein prägendes Kapitel in der Geschichte der Hausbesetzerbewegung in Berlin – nicht nur als Gebäude, sondern als Ausdruck einer Haltung, die Räume nicht nur zum Wohnen, sondern als gesellschaftliche Gestaltungsmöglichkeiten verstand.



Beitrag veröffentlicht am 06.07.2025




Sie lesen den Artikel
Liebig 34 – Berlin Friedrichshain, Liebigstraße



+49 (0)211 16376949
© THOMAS KLINGBERG


© THOMAS KLINGBERG