Ikonographie der Corona-Pandemie

Ikonografie der Pandemie
Berlin-Moabit, 2021

Hinter Glas: Masken, Spiegelungen, Geschlechterrollen – Ein künstlerisches Wimmelbild der Pandemie

Das Foto, aufgenommen im Januar 2021 während des ersten Lockdowns in Berlin-Moabit, zeigt auf den ersten Blick ein Schaufenster mit einer Puppe, die einen Mund-Nasen-Schutz trägt. Doch hinter Spiegelungen, Reflexionen und Überlagerungen verbirgt sich ein Bild, das weit über eine Momentaufnahme der Pandemie hinausweist. Es verdichtet sich zu einem Sinnbild gesellschaftlicher Zustände.

Im Vordergrund steht die Schaufensterpuppe mit streng zurückgekämmtem Haar. Die Stoffmaske, die sie trägt, verleiht der Figur eine unerwartete Lebendigkeit und zugleich etwas Bedrohliches: fest um ihren Mund geschnürt, scheint sie keinen Atemzug mehr tun zu können. Um sie herum verdichten sich weitere Zeichen dieser Zeit: der Schriftzug „Öffnungszeiten“, der unweigerlich an die wechselnden Lockdowns erinnert; die an einer Leine aufgehängten Masken, die wie frisch gewaschene Wäsche wirken; eine weitere Puppe im Hintergrund, deren Kopf durch Spiegelungen beinahe abgetrennt erscheint; und schließlich ein Modeplakat, das eine idealisierte Normalität beschwört. Alles überlagert sich, nichts lässt sich klar voneinander trennen. Es entsteht ein Geflecht aus Symbolik.

Die Fotografie versammelt in diesem künstlerischen Wimmelbild eine Ikonographie der Pandemie: die Maske als Symbol von Schutz und Einschränkung, die Glasscheibe als Barriere zwischen Innen und Außen, die Schriftzüge als ständige Erinnerung an Vorschriften und Schließungen. Die Puppe selbst wird zum Sinnbild der Gesellschaft: regungslos, passiv, ihres Ausdrucks beraubt, mit leerem Blick, vermenschlicht und gleichzeitig entmenschlicht. Die Spiegelungen verstärken das Gefühl einer Welt, die sich nur noch in Schichten und Fragmenten zeigt, unübersichtlich, überfordernd, entrückt.

Mit einem zweiten Blick öffnet sich eine weitere Ebene: Alle Figuren in diesem Bild sind weiblich, und keine von ihnen hat ein vollständiges Gesicht. Sichtbar und doch unkenntlich, anwesend und doch ihrer Individualität beraubt. Die Fragmentierung ihrer Gesichter spiegelt ein geteiltes, zerrissenes Dasein, das sich erst im Blick auf ihr Handeln und die Lasten, die sie tragen, vollständig erschließt.

In der Pandemie waren es vor allem Frauen, die die unsichtbare Last trugen: Homeschooling, Care-Arbeit, Doppelbelastungen. Viele arbeiteten in systemrelevanten, zugleich aber schlecht bezahlten Berufen, etwa im Einzelhandel, in Kitas, in der Pflege. Sie hielten die Gesellschaft am Laufen, während ihre Leistungen im öffentlichen Diskurs kaum Beachtung fanden. Hinzu kamen steigende häusliche Gewalt, wachsende psychische Belastungen und die noch größere Schwierigkeit, Beruf, Kinderbetreuung und Haushalt zu vereinbaren. Frauen waren sichtbar in ihrem Tun, doch unsichtbar in ihrer Last, von gesellschaftlichem, beruflichem und privatem Druck zugleich erdrückt.

So wird das Foto zu mehr als einer Momentaufnahme des Berliner Straßenraums im Lockdown. Es zeigt, wie sehr die Krise traditionelle Rollenbilder verstärkte, wie Frauen sichtbar anwesend und zugleich unsichtbar in ihrer tatsächlichen Arbeit blieben. Hinter Glas, zwischen den vielfältigen Reflexionen und Fragmenten ihres Abbilds, werden sie in dieser Fotografie Teil einer zersplitterten Wirklichkeit.



Beitrag veröffentlicht am 20.02.2023




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Corona-Pandemie: Masken, Spiegelungen, Geschlechterrollen



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© THOMAS KLINGBERG


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