Aleksandr, Aufnahme von 2017
Briefe an Russen: Ausstellung „Begegnungen“ und der Brief an Aleksandr
Im Herbst 2023 fand die Ausstellung „Begegnung“ statt, die ich zusammen mit vier weiteren Künstlern in der Galerie Ross 31 in Düsseldorf realisiert habe. Für meinen Beitrag zeigte ich vier Porträts von Menschen, Russen, denen ich 2017 in Moskau begegnet bin: Ein an Leukämie erkranktes Kind, eine obdachlose Frau, eine nachdenkliche Schönheit und einen Soldaten in Uniform. Damals arbeitete ich dort für zwei Monate im Rahmen eines Stipendiums der Stadt Düsseldorf und des Multimedia Art Museums.
Für mich sind diese Porträts keine bloßen Abbilder, sondern Spuren von Begegnungen mit Menschen, die in Erinnerung bleiben. Ihre Gesichter erzählen Geschichten, die über das Bild hinausgehen. Um diese Geschichten für die Ausstellung “Begegnungen” lebendig zu machen, habe ich zu jedem Porträt einen Brief an die jeweilige Person geschrieben. Diese Briefe sind zwar an sich fiktiv in ihrer Form, basieren aber auf tatsächlichen Begegnungen, Erfahrungen und Eindrücken, die ich mit den Porträtierten erlebt habe.
Eines dieser Porträts zeigt Aleksandr. Auf dem Porträt trägt er eine russische Militär-Uniform, die damals für mich keine Rolle spielte – ich habe ihn nicht als Soldaten gesehen, sondern als Menschen. Unsere Begegnungen waren leise, geprägt von einer Art stiller Selbstverständlichkeit. Vielleicht genau deshalb sind sie mir besonders im Gedächtnis geblieben. In meinem Brief an ihn versuche ich, diese Stille einzufangen – und das, was zwischen den Zeilen liegt.
Brief an Aleksandr
Lieber Aleksandr,
wo steckst du? Wie geht es dir? Ich habe schon sehr lange nichts mehr von dir gehört, gelesen oder gesehen. Auch auf deinem VK-Profil gibt es seit langer Zeit kein Update mehr. Es erinnert mich an die Stille, die oft zwischen uns lag, wenn wir gemeinsam gefrühstückt haben. Nur ist diese Stille jetzt nicht so behaglich.
Nach meiner Rückkehr aus Moskau erzählte ich meinem Nachbarn von dir und zeigte ihm das Porträt, das ich von dir gemacht hatte. Er meinte, dass du sehr liebevolle Augen hast und dass das gar nicht zu deiner Uniform passt. In diesem Moment erinnerte ich mich an den kalten, dunklen Morgen Ende Oktober, kurz bevor der erste Schnee fiel, als wir uns wieder einmal zufällig am kleinen Frühstücksladen vor dem Museum getroffen hatten. Wir tranken Kaffee und aßen viel zu trockene Bulotschki. Im Schneidersitz saßen wir schweigend im Scheinwerferlicht deines Truppenfahrzeugs auf der kalten Bordsteinkante, die noch feucht war vom Nieselregen des Vortages. Du hattest bemerkt, dass ich fror und zitterte. Ohne ein Wort zu sagen, bist du aufgestanden, hast eine dicke Wolldecke aus dem Wagen geholt und sie mir um die Schultern gelegt. Dann setztest du dich wieder neben mich und trankst still weiter deinen Kaffee, bliesest unaufhörlich den aufsteigenden Dampf aus dem Kaffeebecher in die frostige Morgenluft.
Nur wenige Tage nach dem 24. Februar besuchte mich mein Nachbar und blieb lange vor deinem Porträt stehen, das in meinem Flur hängt. Mit nachdenklichem Blick und fast verächtlichem Unterton in der Stimme sagte er, dass er in deinen Augen etwas Böses sieht. Seine Wahrnehmung von dir hat sich verändert; die schönen Geschichten, die ich von unseren Begegnungen erzählt habe, treten für ihn in den Hintergrund. Für mich jedoch tun sie das nicht!
Ja, ich wäre auch gerne wütend auf dich, doch ich kann es nicht sein. Es ist für mich unvorstellbar, dass jemand wie du jetzt auf einem Schlachtfeld steht, gezwungen, auf Menschen zu schießen und selbst in den Kugelhagel zu geraten – oder vielleicht bist du sogar nicht mehr da. Ein Blick auf dein Porträt weckt in mir eine traurige, nachdenkliche Stille, die wie ein Schatten über meine Erinnerung an unsere schöne gemeinsame Stille schwebt.
Ich wünsche mir so sehr und nichts mehr, als dass wir irgendwann wieder zusammen auf einer feuchten Bordsteinkante sitzen, trockene Bulotschkis essen und jeden Bissen mit einem heißen Schluck Kaffee herunterspülen – ohne auch nur ein einziges Wort zu sagen.
Thomas
Mein Beitrag zur Ausstellung stellte die Begegnung mit Aleksandr in den Mittelpunkt – den Menschen selbst, nicht seine Rolle oder vereinfachte, reduzierte Sichtweisen, Zuschreibungen und Ressentiments. Aleksandr ist für mich keine abstrakte Figur oder bloße Symbolik, sondern ein Mensch mit einem Vornamen, einer Geschichte und gemeinsamen Erlebnissen, die weit über stereotype Vorstellungen hinausgehen. In einer Zeit, in der Aleksandr als Soldat von verschiedenen Seiten – sowohl innerhalb der Armee als auch durch westliche Interpretationen seiner Rolle – „entmenschlicht“ wird, möchte ich ihn bewusst „vermenschlichen“.
Interessant war, dass im Frühjahr 2022 im BBK Kunstforum Düsseldorf eines dieser Porträts, das Bild des Soldaten Aleksandr in Uniform, bereits gezeigt wurde. Im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine – möge man den als „russischen Angriffskrieg“ oder „militärische Spezialoperation Russlands“ bezeichnen – gab es Forderungen, das Bild abzuhängen. Das Kuratorenteam entschied sich jedoch, das Bild hängen zu lassen.
Denn auch wenn das Bild Aleksandr als Soldaten in Uniform zeigt, stand es für die Begegnung mit ihm als Mensch – eine Begegnung, die mehr ist als die sichtbare Rolle oder das, was die Uniform symbolisiert.
So blieb das Bild Teil der Ausstellung – genauso wie die Begegnung, die es erzählte.
Beitrag veröffentlicht am 10.11.2023